Ein unvorstellbares Gedränge herrscht in dem uralten Waggon der Andenbahn. Rund dreimal soviel Passagiere, wie es Plätze gibt, sitzen, kauern und hocken auf den spartanischen Holzbänken, auf Kisten und Kartons. Kindergeschrei mischt sich mit dem Diesellärm der Lokomotive, der durch die undichten Fenster hereintönt. Schon seit Stunden kämpft sich die Bahn von der peruanischen Küste zum Altiplano empor.
Endlich rumpeln wir über die Paßhöhe. 4818 Meter über dem Meer. Acht Meter höher als der Montblanc. Der „Inkadoktor”, erkenntlich an seinem weißen Kittel, hat alle Hände voll zu tun. Immer wieder pustet er apathischen Indios aus einer Flasche reinen Sauerstoff ins Gesicht. Doch es ist wohl mehr eine symbolische Handlung. Eine Besserung ist nicht zu beobachten.
Auch wir spüren die Höhe und die Anstrengung der langen Reise. Das gleichmäßige Stampfen der groben Schienenstöße wiegt uns in einen unruhigen Schlaf. Es ist die Stunde der Taschendiebe. Und obwohl ich bei jeder Bewegung im Wagen aufschrecke, bemerke ich das Fehlen des Geldbeutels erst, als ich am nächsten Tag das Zimmer in Huancayo bezahlen möchte. Ärgerlich, trotz des nur relativ geringen Betrages, der fehlt.
Aber wenn man ein fremdes, exotisches Land so bereisen möchte, wie wir es vorhaben, dann muß man solche Mißgeschicke wohl mit einplanen: Wir wollen kein ausgeklügeltes touristisches Programm mit vorgezeichneten Höhepunkten absolvieren, sondern wollen das Land aus der Sicht der Einwohner kennenlernen. Wir wollen Peru nicht nur sehen, sondern wir wollen es spüren. In einer klimatisierten Linienmaschine, die die Touristen von Lima nach Cuzco, dem Ausgangsort zum berühmten Machu Picchu, bringt, hat man jedoch höchstens das Erlebnis eines schönen zweistündigen Rundblicks über die Anden.
Auf der Pritsche von Lastwagen dauert die Reise, wenn alles gutgeht, vier Tage. Niemals hätten wir gedacht, daß vier Tage so lang sein können.
Eingepfercht zwischen Colakisten rumpeln wir an einem Kontrollposten der Guardia Civil vorbei hinein in Nebel und Nieselregen. Endlos erscheint die Fahrt über 5000 Meter hohe Pässe. Bis weit hinauf begleiten uns lilablühende Kartoffelfelder, dichtwogender Mais und das satte Grün von Erbsenstauden. Eine feine Schicht aus pudrigem Staub liegt auf den Colakisten und auf uns. Zwei Stunden später verwandelt sie sich in einem infernalischen Gewitterregen in eine klebrige Schlammbrühe. Doch irgendwie scheint uns die Gelassenheit des indianischen Fahrers anzustecken. Inmitten von gewaltigen Pfützen lehnt er völlig entspannt mit der linken Schulter an der zugebundenen Fahrertür und steuert das altersschwache Vehikel singend durch die tiefsten Schlaglöcher. Mit der sicheren Gewißheit, daß es schlimmer nicht werden kann, kriechen wir in den Biwaksack.
Unsere vage Hoffnung, daß die Fahrt in einem der offiziellen Busse ein bißchen weniger strapaziös sei, wird gründlich enttäuscht. Einen geschlagenen Tag kauern wir bei glühender Hitze an einer Haltestelle und springen bei jedem Motorengeräusch erwartungsvoll auf. Doch der Bus kommt nicht. Und er werde auch am nächsten Tag nicht kommen, sagt uns ein Indio in gebrochenem Spanisch, da der Fahrer den Schlüssel verloren habe und kein Ersatzschlüssel existiere. Der Fahrer eines Lieferwagens erbarmt sich unser.
Immer tiefer hinab führt uns die Fahrt. Vorbei an Orangen- und Bananenplantagen erreichen wir eine herrliche Flußlandschaft, in der die Blattkakteen gerade in voller Blüte stehen. Trotz des Windes ist die Hitze mörderisch. Die Ladefläche füllt sich schon seit Stunden. Immer wieder steigt ein Indio zu. Wenn man jedoch bedenkt, daß der Fahrpreis bei einem Lastwagen nur rund ein Drittel des Buspreises ausmacht, dann kann man leicht verstehen, warum dieses Transportmittel sich einer so großen Beliebtheit bei der Bevölkerung erfreut. Uns ist das Gedränge eine willkommene Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen. Als wir allerdings davon erzählen, daß wir zu Fuß durch den Bergurwald nach Machu Picchu wandern möchten, da ernten wir nur mitleidiges Kopfschütteln und bekommen die Frage gestellt, ob alle Fremden so arm seien, daß sie den Zug nicht bezahlen könnten.
Knapp eine Woche nachdem wir Lima verlassen haben, bummeln wir über die farbenprächtigen Indiomärkte von Cuzco. Das schlichte Hotel mit fließendem Wasser in der Küche kommt uns vor wie ein Palast. Wir gönnen uns zwei Tage Kultur und Erholung.
Es ist noch dämmrig, als wir den nächsten Abschnitt unserer Reise antreten.